Re: Article on smiths in german weekly
on patriotism and pop
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29. März 2008, 04:00 Uhr Von Michael Pilz
Neues England
Unter Anleitung ihrer Alt-Ikonen Morrissey und Billy Bragg entdeckt die britische Popkultur den Patriotismus
Im dritten Song bricht seine Stimme. Dann verschwindet Morrissey, nach zwei gekrächzten Klassikern. Nachdem er "Please, Please, Please, Let Me Get What I Want" gefleht und sich zum "Last Of The Famous International Playboys" ausgerufen hat. Es ist der vierte Abend einer Morrissey-Konzertwoche in London. Mit dem Stimmverlust endet die Heimkehr des verlorenen Sohnes weniger triumphal als vorgesehen. Stumm fliegt er ins römische Exil zurück. In London werden Eintrittsgelder rückerstattet, und die Leute sagen: Hätte Morrissey sich selbst, sein Land und seine Stimme besser schonen sollen.
Im Dezember hatte er dem britischen "New Musical Express" (NME) ein Interview gewährt. Im Magazin, das ihn vor 15 Jahren außer Landes trieb, wurde er mit der Schlagzeile zitiert: "Englands Schleusen sind offen. Das Land ist aufgegeben worden." Englands Leser fanden Morrissey in folgenden Erläuterungen wieder: "Ich habe beileibe nichts gegen Ausländer. Aber je stärker die Einwanderungswelle, umso schwächer die englische Identität. In Deutschland besteht kein Zweifel, wo du bist. Wenn du aber nach England reist, kriegst du alle Akzente unter der Sonne zu hören, außer einem englischen."
Geschichte wiederholt sich tatsächlich. 1992 sah sich Morrissey bei einem Auftritt randalierenden Skinheads gegenüber. Ihnen widmete er umgehend das Spottlied "National Front Disco" mit der Zeile "England for the English!" Dazu griff sich Morrissey eine der ungestüm geschwenkten Nationalflaggen und legte sie sich tuntig um die Schultern. Allerdings fühlten die Störenfriede sich verstanden, während asiatischstämmige Fans zum Sitz seiner Plattenfirma zogen und Plakate und CDs verbrannten. Als der NME das Thema zur Debatte machte, wanderte der Sänger aus. Den "NME" nennt Morrissey seither nur "eNeMEy", den Feind. Der aktuelle Aufreger verpuffte etwas, als sich erst der Autor vom gedruckten Beitrag distanzierte und danach der Sänger selbst mit einer Klage drohte und erklärte: "Rassismus ist unvereinbar mit dem gesunden Menschenverstand." Da traf es sich, dass die Veröffentlichung eines Hitalbums seinen Besuch im Königreich verlangte. Während seines Londoner Gastspiels durfte Morrissey sich wieder gründlich missverstanden fühlen. Deshalb gab er gleich am ersten Abend sein umstrittenes "National Front Disco" zum Besten, stellte einen neuen Gitarristen vor als "echten, lebenden Mexikaner" und erklärte seine angegriffene Stimme: "Ich habe einen Frosch im Hals, und damit meine ich keinen kleinen Franzosen."
Morrissey war nie ein Freund öffentlicher Reue und Zerknirschung. Es ist auch nicht so, dass einen in der Fremde seltener patriotische Gedanken überwältigen. 2004 drückte sein Marschlied "Irish Blood, English Heart" die Sehnsucht aus nach einem Nationalstolz, den das abgewirtschaftete Land nicht mehr verdiene. Morrissey ist kein Rassist. Nur Künstler, und als solcher ist er keineswegs allein als Nationalnostalgiker in Großbritannien. Vivienne Westwood wettert gegen unenglische Zumutungen wie Computerspiele, bombende Araber und verschlagene Handwerker aus Osteuropa.
Großbritannien muss sich neu erfinden. Seine Künstler spenden dabei Trost. Die Modekönigin des Punk mit viktorianischen Gewändern. Morrissey, indem er sich als Wiedergänger Oscar Wildes anbietet, der für Lieder wie "Bengali In Platforms" oder "Asian Rut" sowenig haftet wie für Interviews, aus denen Zeitgeistschreiber Bomben bauen. Debatte braucht Gesichter.
Billy Bragg stahl sich 2002 vorübergehend aus dem Popbetrieb mit "England, Half English" und der Titelzeile: "Dance with me/ To this very English melody/
From morris dancing to Morrissey/ All that stuff came from across the sea". Der Barde bat zum nationalen Tanz, zu Volksliedern und zur Musik von Morrissey; zu allem, was die ehemaligen Kolonien über die Meere brachten. Seine "very English melody" klang sehr arabisch. Billy Bragg meint, was er singt, stets ernst.
Zur Zeit des Postpunk hat er zur Gitarre und im Londoner Dialekt Protestlieder gesungen. Er war 1986 unterwegs mit der Red-Wedge-Bewegung, um die Jugend zu ermuntern, Margaret Thatcher abzuwählen. Er hat "Die Internationale" aufgenommen. In der DDR hat Billy Bragg gespielt und sich auch dort mit Äußerungen über die Kaninchen auf dem Todesstreifen unbeliebt gemacht. Berühmt wurde er mit dem Song "New England", wo es hieß: "Kein neues England suche ich. Ich suche lediglich nach einem neuen Mädchen." Vaterland galt als Begriff der Rechten. Dann erschien "England, Half English".
Nun, nach einer sechsjährigen Pause, meldet Billy Bragg sich singend mit dem Album "Mr. Love & Justice" wieder. Einer Platte voller Liebeslieder. "Es deckt gewissermaßen meine beiden größten Leidenschaften ab: die Liebe zu meiner Frau und meiner Familie und die Liebe zur sozialen Gerechtigkeit", sagt Billy Bragg. Dem selbst verfassten Buch, das auch der Anlass des vorübergehenden Rückzugs war, stellt er den Satz voran: "Ich liebe mein Land, auf die gleiche Weise wie ich meinen Sohn liebe." Der Sänger hat ein Manifest verabschiedet. Es trägt den Titel "The Progressive Patriot: A Search For Belonging" und liest sich als seriöse Streitschrift gegen alle Morrisseys und Westwoods, die sich vor dem Neuen England ekeln. Billy Bragg erklärt, es sei "kein Buch für mittelalte Männer, die den Goldenen Zeiten nachtrauern".
Es ist ein wilder Ritt durch die Geschichte. Ins Jahr 410 zur angelsächsischen Besiedlung und wieder zurück ins Jahr 2006 zum Einzug der Nationalisten in die Lokalverwaltung von Barking, dort wuchs Billy Bragg heran. In London-Barking wird zur gleichen Zeit, 2006, ein Taliban-Verfolgter aus Afghanistan von Engländern erstochen und von ihnen mit dem Union Jack bedeckt. Zurück im 19. Jahrhundert tritt Braggs Großvater als Gasarbeiter der Gewerkschaft bei. Dann bis zur Bill Of Rights von 1689. Knapp 300 Jahre später wird der Schüler Billy Bragg plötzlich von Simon & Garfunkel überwältigt, die in "Kathy's Song" die Sehnsucht plagt nach "England where my heart lies". Es geht stets um radikale Traditionen, um die Zusammenhänge zwischen Popkultur und einem Wohlfahrtsstaat, der in den Weltkriegen bereits von multikulturellen Streitkräften fürs Königreich verteidigt wird.
Es geht natürlich auch wieder um Eric Clapton. 1976 hatte Clapton sich im Londoner Odeon beim Publikum im Saal nach Zugewanderten erkundigt. Als sich eine Reihe dunkler Arme hob, sagte der Gitarrist: "Ich denke, wir sollten alle Enoch wählen." Enoch Powell hatte sich schon 1968 mit einer Rede über "Ströme von Blut" als entschiedener Einwanderungsgegner profiliert. Aber erst Eric Claptons Wahlempfehlung hat die Rock-gegen-Rassismus-Bewegung ausgelöst, die Billy Bragg so gründlich prägen sollte wie der Punk der Clash oder die regelmäßige "NME"-Lektüre.
Billy Bragg ist kein verpeilter Multikulti-Spinner. Er macht sich Gedanken. Über Herkunft, Heimat und Konservative wie den Oppositionsführer David Cameron, dessen erklärte Lieblingsplatte "The Queen is Dead" heißt und von Morrissey und seiner Achtzigerjahre-Band The Smiths stammt. Bragg erinnert an die Arbeiterklasse und ihre Nähe zu den Neuankömmlingen. Er schreibt: "Der moderne Kult ums Konsumentenindividuum hat unsere Sinne für kollektive Verantwortung untergraben." Es geht ihm um eine Art Bürgertum von unten.
Vieles kommt einem beim Lesen auch aus deutscher Sicht bekannt vor. Die Flaggendebatte: Darf man Fähnchen schwenken, unter denen früher nicht nur Gutes angerichtet wurde? Oder auch der Cricket-Test: Ist etwas faul im Staat, wenn sich Migranten für die sportlichen Erfolge ihres Herkunftslands begeistern? Billy Bragg, der progressive Patriot, beruft sich auf George Orwell: "Patriotismus hat nichts mit Konservatismus zu tun. Er ist eigentlich das Gegenteil von Konservatismus. Er ist die Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft."
Eine mittlerweile eher konservative Kunstfigur wie Morrissey spielt die neobürgerliche Rolle: Er verschanzt sich, schwärmt für kulturelle Werte und erklärt die Welt. Vor allem ist er schnell beleidigt. Eines seiner beiden neuen, wiederum sehr schönen Lieder trägt den Titel "All You Need Is Me", und das geht so: "Es gibt so viel Zerstörung in der Welt, und alles, was dir einfällt, sind Beschwerden über mich." Dem Engländer in ihm verschlägt es glatt die Sprache.
Morrissey: Greatest Hits (Decca)
Billy Bragg: Mr. Love & Justice( Cooking Vinyl)
Billy Bragg: The Progressive Patriot. A Search For Belonging (Black Swan, 350 S., 7,99 Pfund)